Gedichte vergangener Monate von Friedrich Rückert

Der Dichter ist ein Akrobat

Der Dichter ist
Ein Akrobat, Äquilibrist
Auf Redeseilen schreitend, straff gespannten,
Mit Windungen Wendungen vielgewandten.
Durch seiner Sprünge Launen
Weckt er Erstaunen,
Und selber kleine Schrecken
Will seine Kühnheit wecken;
Doch wenn man denkt: nun fällt er,
So hält er
Im Gleichgewichte wieder
Den Leib und alle Glieder.
Und wenn er einmal wirklich stürzt,
So fliegt er leicht, wie luftgeschürzt,
Und sein Beruf bleibt unverkürzt,
Denn weder Hals noch Knochen
Hat er gebrochen.

Friedrich Rückert, Aus dem Nachlaß.
Beyer, Band IV, Seite 502

Nachzulesen im neuen Rückert-Buch von Klaus Gasseleder
Der Dichter ist ein Akrobat


Die Weisheit des Brahmanen, Nr. 3

Poeten, lasset uns treulich zusammen halten!
Erkälten dürf' uns nicht die Welt, noch selbst erkalten.

Haucht aus euch nur die Gluth, die Gott in euch gehaucht,
Und bleibet wohlgemuth, wenn draußen sie verraucht.

Wer größer, kleiner sei, das lasset uns nicht streiten;
Uns richtet diese Zeit, sie richten künft'ge Zeiten.

Gar viel, was heute glimmt, wird über Nacht verglimmen;
Und was nun oben schwimmt, wird fort im Strome schwimmen.

Was dem das meiste gilt, wird der am meisten schelten,
Und drum, was dieser schilt, wird jenem doppelt gelten.

Gut Werk ist Dichterei, die feine wie die plumpe,
Und nur Kunstrichterei ist ein Geschäft für Lumpe.

Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 6. Leipzig, 1839.


Mußt Du denn immer dichten?

Sie sagen bei jedem neuen Lied:
Mußt du denn immer dichten?
Ich sage: Denkt an euer Gebiet!
Müßt ihr nicht immer denken?
Sie sagen: Es ist ein Unterschied
Zwischen denken und dichten.
Ich sage: Für mich mitnichten:
Ich denke nie ohne zu dichten,
Und dichte nie ohne zu denken.

Rückert: Letzte Gedichte


Am sechszehnten Mai

Am sechszehnten Mai ist Glorie volle der Maien,
Am siebzehnten bereits neigt er dem Ende sich zu.
Am sechszehnten hat er noch einige Stufen zu
Bis zum Gipfel hinan, Stufen mit Rosen bestreut.
Vor und nachher im Mai sind andere Dichter geboren,
Am sechszehnten allein glaub’ ich geboren zu seyn.
Rühmt’ ich eines, so rühm’ ich ein anderes: nicht nur geboren
Bin ich in Mitte des Mai’s, auch in der Mitte des Mains.
Vom Jean Paulschen Bayreuth bis hinan zum Goetheschen Frankfurt
Ist er in Mitte des Laufs, wo mich geboren der Main.
Mainfurt sollte deswegen genannt seyn meine Geburtsstadt;
Weinfurt ist sie genannt ohne den Zischer davor.

Rückert: Briefe, Bd. 2 (1977), S. 1376 (Brief Nr. 1088 v. [Ende Mai] 1863)


Bös und Gut der Welt

Ob diese Welt ist bös, ob gut,
das ist die alte Frage.
So ist sie, wie dir′s ist zu Mut
an gut und bösem Tage.

Drum, wenn sie dir gut erscheint,
o mache sie nicht schlimmer;
und meine, wenn sie′s böse meint,
nur gut mit ihr es immer.

Sie ist nicht bös und ist nicht gut,
ist gut zugleich und böse.
Vertrau auf den, der Wunder tut,
dass er den Zwiespalt löse!


Aus den Kindertodtenliedern

Ach von meinem lieben Schwärmchen
Die zwei kleinsten, die zwei feinsten,
Immer unter sich am einsten,
Die sich hatten lieb am reinsten,
Wie sie mit geschlungnen Aermchen
Eines um des andern Näckchen,
Eines an des andern Bäckchen,
Saßen zwei auf einem Stühlchen,
Lehnten zwei an einem Pfühlchen,
Spielten zwei auf einem Tischchen;
So im golden-schönsten Nischchen
Paradieses-weiter Hallen,
Wie einst hier im engen Stübchen,
Soll mein Mädchen und mein Bübchen,
Sitzen, allen
Engeln itzt ein Wohlgefallen,
Mit den leisen Wangengrübchen,
Und ihr Unschuldslallen,
Ihres Lachens Schallen,
Mache wie mein Herz den Himmel wallen!


Auf Erden gehest du

Auf Erden gehest du und bist der Erde Geist;
Die Erd erkennt dich nicht, die dich mit Blüten preist.

Auf Sonnen stehest du und bist der Sonne Geist;
Die Sonn erkennt dich nicht, die dich mit Strahlen preist.

Im Winde wehest du und bist der Lüfte Geist;
Die Luft erkennt dich nicht, die dich mit Atmen preist.

Auf Wassern gehest du und bist des Wassers Geist;
Das Wasser kennt dich nicht, das dich mit Rauschen preist.

Im Herzen stehest du und bist der Liebe Geist;
Und dich erkennt das Herz, das dich mit Liebe preist.


Schön im goldnen Ährenkranz

Schön im goldnen Ährenkranz
Hat der Sommer uns geblüht
Flüchtig kreist des Jahres Tanz,
Und der Sommer flieht.

Hascht den letzten Sonnenstrahl,
Der aus düstrer Wolke dringt,
Eh' sie euch zum letztenmal
Neidisch ihn verschlingt.

Brecht die Blum' am Wiesenquell,
Die noch trinkt das matte Licht,
Brüder, brecht die Blume schnell,
Eh' ein Frost sie bricht.

Traut dem nächsten Lenze nicht,
Der die Blumen neu erweckt;
Wißt ihr, ob im Lenze nicht
Erde schon euch deckt?

In den dunklen Schoß hinab
Dringt kein Gruß der Frühlingsluft,
Und die Blum' auf eurem Grab
Ist euch ohne Duft.

Friedrich Rückert, Haus und Jahr, Herbstlieder


Leicht vergeht ein Tag, an dem nicht was geschah,
Das herzlich mich erfreut, wenn ich es recht besah.
Wenn einer doch verging, an dem mir nichts des neuen
Erfreulichen geschehn, da muß mich altes freuen.

Friedrich Rückert, Weisheit des Brahmanen


Der Wettermacher

Wenn sich das Wetter schlecht läßt an,
Hab‘ ich den Trost erdacht:
Der Himmel, der es ändern kann,
Der sehe zu! was geht‘s mich an?
Hab ich‘s doch nicht gemacht!

Und wann die Luft sich aufgehellt,
Wie es mein Herz begehrt,
Dann blick‘ ich freudig in die Welt,
Als hätte man‘s bei mir bestellt,
Und ich hätt‘ es beschert.

Friedrich Rückert (1788-1866)
Haus und Jahr, Zweites Buch, Sechste Reihe, Herbst

Herbsthauch

Herz, nun so alt und noch immer nicht klug,
Hoffst du von Tagen zu Tagen,
Was dir der blühende Frühling nicht trug,
Werde der Herbst dir noch tragen!

Läßt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Immer zu streicheln, zu kosen.
Rosen entfaltet am Morgen sein Hauch,
Abends verstreut er die Rosen.

Läßt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Bis er ihn völlig gelichtet.
Alles, o Herz, ist ein Wind und ein Hauch,
Was wir geliebt und gedichtet.


Friedrich Rückert (1788-1866)
Haus und Jahr, Viertes Buch, Sechste Reihe, Herbst, Herbstlieder
Vertont von Hans Pfitzner (1869-1949), Opus 29,2


Die Monatsrose

Hoffnung ist die Monatsrose,
Deren Knospe viel verspricht,
Doch die kurze dauerlose
Flatterblüte hält es nicht.

Aber daß dich nicht gereue
Monatsrosenlebenslauf!
Hoffnung! geht doch eine neue
Knospe jeden Monat auf.


Das Leben ein Gesang

Daß mein Leben ein Gesang,
Sag ich's nur! geworden;
Jeder Sturm und jeder Drang
Dient ihm zu Akkorden!

Was mir nicht gesungen ist,
Ist mir nicht gelebet;
Was noch nicht bezwungen ist,
Sei noch angestrebet!

Von der Welt, die mich umringt,
Wüßt' ich unbezwingbar
Wen'ges nur; die Seele klingt,
Und die Welt ist singbar.


Die ungesuchten Lieder

Ihr meint, ich habe sie gesucht,
Weil ihrer sind so viele,
Sie suchten mich, ich nahm die Flucht,
Doch floh ich nur zum Spiele.

Die jüngste wollt' ich von der Hand
In vollem Ernste weisen,
Das doch auf seinem Recht bestand,
Den Schöpfer auch zu preisen.


Schneeglöckchen

Der Schnee, der gestern noch in Flöckchen
Vom Himmel fiel,
Hängt nun geronnen heut als Glöckchen
Am zarten Stiel.
Schneeglöckchen läutet, was bedeutet's
Im stillen Hain?

O komm geschwind! Im Haine läutet's
Den Frühling ein.
O kommt, ihr Blätter, Blüt' und Blume,
Die ihr noch träumt,
All zu des Frühlings Heiligtume!
Kommt ungesäumt!

Ein Festtag soll dich stärken

Ein Festtag soll dich stärken
zu deines Werktags Werken,
dass du an dein Geschäfte
mitbringst frische Kräfte.
Du darfst nicht in den Freuden
die Kräfte selbst vergeuden;
neu sollen sie ersprießen
aus mäßigem Genießen.


Der April zum Maien sprach

Der April zum Maien sprach:
Komm nun! alle sind sie wach,
Die ich aufgewecket.
Alle, die bedecket
Todesschlummer, rüttelt' ich,
Und sie warten nun auf dich;
Gib, was ich versprochen,
Ihrem Herzenspochen.

Gib dem Himmel Himmelsblau
Zum Gewand, und Grün der Au,
Und laß Taujuwelen
Nicht den Blumen fehlen.
Gib zu trinken jedem Gras
Deines Weins ein volles Glas,
Nester gib und Schatten
Allen Vogelsgatten,
Einen Blütenkranz dem Baum,
Und dem Dichter einen Traum,
Daß ihm Jugend wieder
Bringen seine Lieder."